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AutorenbildJan Koltze

Keine soziale Marktwirtschaft ohne Tarifbindung

Eine Entgegnung von Jan Koltze auf einen Beitrag des Nordmetall-Hauptgeschäftsführers gegen die politische Stärkung der Tarifbindung



Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Nordmetall, Nico Fickinger, hat sich kürzlich in einem Namensbeitrag im Hamburger Abendblatt gegen die Absicht der SPD und anderer Parteien gewandt, die zurückgehende Tarifbindung von Unternehmen mit politischen Instrumenten wieder stärken zu wollen. Hier meine Erwiderung:


Der Spitzenfunktionär des Arbeitgeberverbands empört sich über das Ziel der SPD und anderer Parteien, die Tarifbindung politisch stärken zu wollen. Doch seine Empörung ist scheinheilig, denn er sollte sich besser darüber beklagen, dass die zunehmende Tarifflucht von Arbeitgebern ein politisches Eingreifen erst nötig macht.


Und nötig ist es, denn Herr Fickinger hat ja Recht: Die Tarifautonomie ist tatsächlich in Gefahr. Nur eben aus genau den entgegengesetzten Gründen, die er meint. Nicht die Stärkung der Tarifbindung durch geeignete politische Maßnahmen gefährdet die Tarifautonomie, sondern im Gegenteil deren Schwächung durch die zunehmende Weigerung von Arbeitgebern, ihrer grundgesetzlichen Verantwortung für mit den Gewerkschaften gemeinsam geordnete, dem sozialen Ausgleich dienende Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen nachzukommen („Sozialpartnerschaft“).


Nach übereinstimmender Rechtsauffassung ist die den Normen des Grundgesetzes entsprechende Wirtschaftsordnung die soziale Marktwirtschaft. Dabei wird aus zentralen Grundnormen (v.a. der Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums nach Art. 14 und der Definition der Bundesrepublik als Sozialstaat in Art. 20) deutlich, dass das „soziale“ von den Müttern und Vätern der Verfassung weitaus ernster und weitreichender gemeint ist, als es die Neoliberalen wahrhaben wollen (die seit Jahren versuchen, den Begriff der sozialen Marktwirtschaft als „Neue soziale Marktwirtschaft“ umzudefinieren und dabei das Soziale verzwergen wollen auf die Gnade der Arbeitgeber, „Arbeit zu geben“).


In diesem Zusammenhang steht die aus dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9, 3 GG) abgeleitete „Tarifautonomie“. Sie bedeutet, dass die autonomen „Koalitionen“ von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen, v.a. die Höhe der Löhne und Gehälter, im Rahmen der Gesetze gemeinsam eigenverantwortlich mittels Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfen aushandeln.


In diesem Sinne sind die Sozialpartner also frei und autonom. Doch indem das Grundgesetz ihnen diese Freiheit zur Gestaltung der konkreten Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen einräumt, überträgt es ihnen zugleich die Verantwortung, dies auch gemeinsam zu tun. Aber Tarifverträge, die faktisch nur für einen kleinen Teil der Unternehmen und Beschäftigten einer Branche gelten, weil sich die Unternehmen der Tarifbindung verweigern, können diesen grundgesetzlichen Auftrag – die autonome, sozialpartnerschaftliche Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen – gar nicht erfüllen. Die von den Arbeitgebern so gern beschworene Tarifautonomie kann also nur dann wirksam werden und Bestand haben, wenn ihre Verhandlungsergebnisse auch verbindliche Geltung haben, weil die Unternehmen an sie gebunden sind. Deshalb gehören Tarifautonomie und Tarifbindung zwingend zusammen, sind zwei Seiten einer Medaille. Die eine ist ohne die andere nicht zu haben, so einfach ist das.


Dies ist auch die ausdrückliche Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, das daher bereits 1977 in einem wegweisenden Urteil klargestellt hat, dass staatliche Eingriffe zur Absicherung einer weitreichenden Tarifbindung – wie etwa die sogenannten Allgemeinverbindlichkeitserklärungen – nicht nur mit der Tarifautonomie nach Art. 9, 3 GG vereinbar sind, sondern sogar geboten, um seinem politischen Geiste Geltung zu verschaffen. Diese Rechtsauffassung hat das höchste deutsche Gericht seitdem mehrfach und bis heute bestätigt. Sie steht offensichtlich in krassem Gegensatz zur Behauptung des Arbeitgebervertreters Herrn Fickinger, eine starke Tarifbindung widerspreche der dem Grundgesetz. Das Gegenteil ist der Fall: Sozialstaat, Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie brauchen, ja verlangen Tarifbindung. Kennt der Spitzenfunktionär eines großen Dachverbandes die Rechtsprechung und den Verfassungskonsens nicht? Oder ignoriert er sie und will das Publikum bewusst in die Irre führen?


Denn das Bundesverfassungsgericht hat auch deutlich gemacht, welche Bedeutung Tarifverträge haben: Sie haben vor allem eine Schutzfunktion für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sollen sicherstellen, dass die Beschäftigten eines Betriebes, eines Konzerns, einer Branche gleichermaßen in den Genuss anständiger Arbeitsbedingungen und angemessener Löhne kommen. Dafür ist aber gerade entscheidend, dass die Tarifverträge eine übergreifende, allgemeine Verbindlichkeit für die Beschäftigten einer Branche haben, und dass sie deshalb von ihnen gemeinsam – in Form ihrer Gewerkschaften – mit den Arbeitgebern verhandelt werden. Denn, so hat auch das Verfassungsgericht klar konstatiert, in unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist der einzelne Arbeiter, die einzelne Angestellte eben nicht in der Position, mit dem Arbeitgeber allein auf Augenhöhe verhandeln zu können, da dessen Machtposition strukturell überlegen ist (nur dort, wo ein ausgesprochener Fachkräftemangel herrscht, gilt dies weniger absolut).


Indem übergreife Tarifverträge (als Konzern- oder Branchen- bzw. Flächentarifverträge) also vor allem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndrückerei und Willkür schützen, schützen sie zugleich aber auch all jene Unternehmen, die den marktwirtschaftlichen Wettbewerb gerade nicht über Lohnsenkungen, sondern über Leistung, Qualität und Innovation austragen wollen. Auf den Punkt gesagt: Tarifbindung schützt fairen Wettbewerb und verhindert „Schmutzkonkurrenz“. Deshalb haben alle Unternehmen, die ihren Beschäftigten anständige Löhne zahlen wollen, auch ein Interesse an einer starken Tarifbindung.


Auch das von Arbeitgeberseite oft beschworene Argument einer notwendigen Flexibilität für Unternehmen greift nicht, denn Tarifverträge können sehr wohl sie ausgestaltet werden (und sind es oft), dass sie betriebliche Anpassungen ermöglichen, wenn Arbeitgeber und Betriebsräte sie vereinbaren.


Daher kommt es nicht von ungefähr, dass sich bei Tarifverhandlungen in Branchen und Regionen nicht selten auch die Arbeitgeber für die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags aussprechen. Doch nach derzeitiger gesetzlicher Regelung müssen auch die obersten Spitzenverbände der Arbeitgeber zustimmen, damit das zuständige Ministerium Tarifverträge per Verordnung für allgemeinverbindlich erklären kann – und die verweigern sich regelmäßig, geleitet von dem ideologischen Motiv, jede demokratische Einmischung in ihrem Herrschaftsbereich grundsätzlich abzulehnen.


Dies ist – neben der steigenden Zahl von Unternehmen, die aus der Tarifbindung aussteigen – ein wesentlicher Grund, warum Gewerkschaften, SPD und andere die Tarifbindung durch Reformen stärken wollen. Dies widerspricht nicht der Verfassung, wie Herr Fickinger uns glauben machen will, sondern im Gegenteil: Es ist notwendig, um unser Grundgesetz vor seiner schleichenden Aushöhlung zu schützen, um Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft zu bewahren.

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